Dunkelsucht: «Verdingkind» (2022)
Mein Zug verlässt das Grau des Bahnhofs schleichend, überquert dann die grosse Brücke und gibt die Aussicht auf die Stadt frei. Eben habe ich eine Ausstellung über fürsorgerische Zwangsmassnahmen im Kanton Bern besucht. Ich habe längst meine Kopfhörer aufgesetzt und versinke in den Klängen einer Playlist. Die Welt um mich herum versinkt in einen Nebel, dem ich dankbar in die Welt der Musik folge.
In meinem Leben spielt Kunst, insbesondere aber Musik und Literatur, eine zentrale Rolle. Kunst ist für mich sowohl eine Möglichkeit, einer Welt zu entfliehen, der ich mich manchmal verweigern möchte, als auch ein Weg, ihr neue Perspektiven zu eröffnen. Denn obwohl Protest unbedingt auf der Strasse und in der Wirklichkeit stattfinden muss, bildet in vielen Situationen die Kunst die einzige Möglichkeit, die Welt ein kleines Stück verändern zu können. Ist es einer Gesellschaft nicht möglich, direkten Protest auszuüben, Veränderungen anzustossen, so kann diese Umgestaltung begleitet und erweitert werden durch Kunst. Literatur zeigt Welten auf, die waren, sind oder sein könnten. Sie bietet den Leser:innen an, sich darauf einzulassen, Angst zu empfinden, zu einer Katharsis zu finden.
Musik bietet all dies unmittelbarer an, für mehr Menschen mitfühlbar. Daher kann Musik das mächtigere Instrument sein, eine Gesellschaft zu berühren – auch wenn ich eine Advokatin dafür bin, dass sich die Menschen wieder mehr auf die Welt der Literatur einlassen und in sie eintauchen, um das Generische, das von unserer Gesellschaft Besitz ergriffen hat, zu durchbrechen. Um uns vor der Blindheit zu schützen, die uns wie eine Krankheit erfasst hat.
Bei der Musik gibt es vielschichtige Zugänge – über den Text, die Melodie oder die Atmosphäre an einem Konzert, wo sich die Menschen als Gruppe verstehen können. Bei jedem Zugang gibt es darüber hinaus einen persönlichen wie auch einen übergeordneten. Fühle ich mich einem Lied verbunden, so kann dies über meine persönliche Biografie geschehen oder auch über das Mitfühlen oder -denken in Bezug auf das im Werk Geschilderte.
Ein Beispiel, das für mich beides bedeutet, ist der Song «Verdingkind» von Dunkelsucht. Er bildet damit den Beginn dieses Projekts, das sich mit Literatur, Musik und der Welt beschäftigen wird. «Verdingkind» erschien 2022 (neu 2025 auf der LP «Unabated») und beschäftigt sich mit einem Kapitel der Schweizer Geschichte, das viele gerne ungelesen weiterblätterten.
Bis 1981 wurden in der Schweiz viele Kinder zu Opfern sogenannter «fürsorgerischer Zwangsmassnahmen», bekannter als Verdingung. Was das konkret heissen konnte, beschreiben Dunkelsucht in ihrem Song. Der fünf Strophen umfassende Text schildert ein typisches Schicksal eines von den Zwangsmassnahmen betroffenen Mädchens. So wird die Protagonistin des Liedes zu «ein[em] Kind zweiter Klasse». Die Geschichte, die hier exemplarisch für die Kindheit und Jugend von hunderttausenden Kindern und Erwachsenen (Bundesamt für Justiz).
Mädchen, aber auch Jungen und Menschen, die dem System in irgendeiner Weise zur Last fallen konnten, wurden so «versorgt» und in Familien untergebracht, die ihrerseits wiederum weder Auflagen erfüllen mussten noch einer Überwachung unterzogen wurden. Zu den Massnahmen gehörten häufig auch die Ausnutzung der Arbeitskraft der Kinder, die Unterbringung unter prekären Verhältnissen, die Trennung von Geschwistern. Häufig fanden sich die Geschwister erst Jahrzehnte später wieder, wenn überhaupt. Nicht unüblich war es eben auch, wie die erste Strophe des Liedes beschreibt, dass die Kinder in einem Nebengebäude eines Bauernhofes oder im Stall untergebracht waren und ebenso häufig kaum genügend Nahrung erhielten. «Niemand schert sich um sie», so wird die mangelnde Zuneigung vieler Pflegeeltern gegenüber den verdingten Kindern beschrieben. Hunger, physisch wie auch nach menschlicher Nähe bildeten den Alltag dieser Menschen.
«Der Begriff Verdingung tritt in zahlreichen Zusammenhängen auf und umschreibt eine vertragliche Abmachung, die in gewissen Fällen eine Arbeitsleistung und deren Entschädigung beinhaltet.» So lautet die Definition im Historischen Lexikon der Schweiz, Dunkelsucht singen davon, dass die Kinder von ihrer «Familie verlassen und wie […] Sklave[n] verkauft» wurden. Das Geschäft mit Verdingkindern, aber eben auch die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen waren letzten Endes in vielen Fällen nichts anderes als finanzielle Anreize (so fanden auch Marktversteigerungen statt) – oder auch die Beschaffung von Versuchspersonen. Jenische, Randständige und Menschen, die sich dem System nicht unterordnen wollten, wurden zwangssterilisiert und weggesperrt.
Der Song von Dunkelsucht zeigt die Situation eines Verdingkindes von der Ohnmacht hin zur Wut, die bleiben soll, auf. Der Text zeigt auf, dass nicht alle Betroffenen stumm geblieben sind, auch die vielen Namen, die mittlerweile an der Wand der Ausstellung «Vom Glück vergessen» im Bernischen Historischen Museum zu lesen sind, zeugen davon. Andere wiederum schwiegen, häufig lange auch gegenüber ihren Familien, so beispielsweise meine Grossmutter. Während die im Lied geschilderte Situation dem entspricht, was wir nach ihrem Tod erfuhren, konnte sie das Erfahrene, Erlebte nie umwandeln in Zorn, sie kapselte das, was nie hätte vergessen werden dürfen, tief in ihren Alpträumen ein. Hier greift die Musik, denn sie vermag es, Menschen wie Sabine eine Stimme zu geben.
Die Schweiz hat dieses Kapitel über lange Jahre hinweg zu vergessen versucht, darüber sprechen wollte weder der Staat noch die Betroffenen. Erst 2010 entschuldigte sich die Regierung für das Unrecht, das geschehen war. Die Protagonistin im Song von Dunkelsucht wird verfolgt von bösen Träumen, fühlt die körperlichen Auswirkungen und «wandelt Verzweiflung zu grausamem Zorn» – bei den meisten Betroffenen blieb wohl eher das Gefühl der Ohnmacht, das die Träume leitete. 25’000 Schweizer Franken ist es der Regierung wert. Geld, das viele Verdingkinder nicht mehr einfordern können. So auch meine Grossmutter nicht, denn sie starb, ehe sich die damalige Bundesrätin Evelyn Widmer-Schlumpf für das Unrecht entschuldigte, das meiner Grossmutter und all den anderen Betroffenen widerfahren war. Und auch wenn die Zeit weiter vergehen wird, so bleit «das Unrecht [doch] geschehen». Mit Dunkelsuchts Lied aber bleibt ein Mahnmal, das diese «dunklen Seiten der Geschichte» zwar nicht sichtbar, aber doch hörbar macht: So bin ich nun also an meinem Ziel angekommen und verlasse den Zug, die Kopfhörer behalte ich aber auf, denn auch andere Lieder reflektieren unsere Gesellschaft.
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